Verhandlungen sind Bestandteil jeder Geschäftsbeziehung und insbesondere zwischen B2B-Verkäufern und -Käufern unverzichtbar. Die Planung und Durchführung von Verhandlungen ist eine Kernkompetenz, die beide Seiten des Verhandlungstisches gut beherrschen müssen. In diesem Artikel geht es um die Tatsache, dass beim Verhandeln suboptimale Ergebnisse erzielt werden, wenn man für sein Gegenüber zu berechenbar wird. Demnach entsteht echte Verhandlungsmacht durch die Fähigkeit, unberechenbar zu bleiben und dabei gleichzeitig eine vertrauensvolle Geschäftsbeziehung zu unterhalten, die die Interessen beider Verhandlungspartner zufrieden stellt.

„Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast…“ ist wohl das Letzte, was man in einer Geschäftsverhandlung von seinem Gegenüber hören möchte. Es offenbart, dass der Verhandlungspartner unsere Schritte vorhergesehen und unser Vorgehen durchschaut hat. Wir haben an Verhandlungsmacht eingebüßt und sind berechenbar geworden, eine Situation, die unsere
Einflussmöglichkeiten erheblich schwächen kann und mit hoher Wahrscheinlichkeit zu suboptimalen Verhandlungsergebnissen und vertanen Chancen führt. Sich in die Karten blicken zu lassen, bevor das Kartenspiel überhaupt begonnen hat, ist ein Anfängerfehler. Und dennoch agieren sowohl Verkäufer als auch Käufer am Verhandlungstisch häufig nach gewohnten Mustern. Das macht sie leicht berechenbar.

Ein Beispiel: Oftmals werden Termine für Geschäftsverhandlungen um persönliche Urlaubspläne herum gelegt, die – welche Überraschung – vorwiegend in die Sommermonate fallen. Oder sie werden um Budgetzyklen und Fachmessen herum terminiert, finden kurz nach Ablauf des vorherigen Vertrags statt oder regelmäßig zu Beginn des Geschäftsjahres. Sollten Verhandlungen nicht eher dann stattfinden, wenn die Marktbedingungen gut sind oder die Gelegenheit auf Käufer- oder Verkäuferseite günstig ist (z. B. Über-/Unterversorgung, hohe/niedrige Nachfrage, angespannte/lockere Marktbedingungen, usw.)?

Auf die Frage, warum Verhandlungen scheinbar immer zum gleichen Zeitpunkt stattfinden, antworten die meisten Menschen:

• „...das war einfach schon immer so!“,
• “…so funktioniert die Branche!”,
• “…der Lieferant/Kunde hat über den Sommer geschlossen!”,
• “…der Lieferant/Kunde ist ein strategischer Partner!”.

Der eigentliche Grund, warum die Verhandlungen häufig immer auf dieselbe Weise ablaufen, ist, dass es bequem ist. Es ist eben so viel einfacher, vorhersehbar zu sein. Dieses Verhalten hat jedoch seinen Preis. Zunächst einmal kann es die eigene Verhandlungsposition erheblich schwächen. Erfahrene Verhandlungsführer sind geschult darin, die Muster, Gewohnheiten und Routinen ihres Gegenübers zu analysieren und zu durchschauen, um Einfluss nehmen zu können und ihre eigene Position zu verbessern. Zweitens kann Vorhersehbarkeit zu nachlässiger Bequemlichkeit in der Geschäftsbeziehung führen. In Maßen unberechenbar zu sein kann die eigene Verhandlungsposition stärken, da es hilft, die Interaktion zwischen Käufer und Verkäufer herauszufordern. Es zwingt beide Seiten dazu, die Beziehung und die eigenen Stärken und Schwächen sowie die gemeinsamen Chancen und Risiken fortlaufend neu zu bewerten. Drittens verschenkt man durch berechenbares Handeln Chancen. Immer nach Schema F vorzugehen, hindert einen daran, Marktchancen wahrzunehmen und entstehende Geschäftsrisiken zu vermeiden.

Was sollten geschickte Verhandlungspartner stattdessen tun?

Unberechenbar sein! Dabei gilt es, regelmäßig seinen Verhandlungsansatz anzupassen und die eigene Herangehensweise zu überprüfen. Gleichzeitig kommt es aber auch auf eine sorgfältige Planung und strategische Vorgehensweise an. Die folgenden Methoden eigenen sich als guter Einstieg, um weniger berechenbar zu werden.

• Das Überraschungsmoment nutzen: Den Verhandlungsprozess zu beschleunigen oder zu verzögern, kann eine große Auswirkung auf den Verhandlungspartner haben.

• Günstige Marktbedingungen ausnutzen: Eine Verhandlung zu beginnen, wenn bestimmte Faktoren zu den eigenen Gunsten sprechen, kann die Möglichkeit zur Einflussnahme und die eigene Verhandlungsposition erheblich stärken.

• Zwischen unterschiedlichen Verhandlungsformen und -stilen wechseln: Zwischen einem Angebotsverfahren und einer privaten Verhandlung zu wechseln, kann auf Seiten des Verhandlungspartners zu sehr unterschiedlichen Reaktionen führen. Auch der Wechsel des Verhandlungsführers sorgt für ein Überraschungsmoment.

• Die Konkurrenz ins Spiel bringen: Die transparente Nennung von Alternativoptionen durch den Verkäufer oder Käufer wird Handlungen und Reaktionen auf Seiten des Verhandlungspartners hervorrufen.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Keiner der Verhandlungspartner sollte durchweg unberechenbar und folglich auch in der Geschäftsbeziehung unzuverlässig agieren. Das könnte mittel-bis langfristig erhebliche Auswirkungen und negative Folgen für beide Seiten haben. Gute Verhandlungsführer berücksichtigen bei der Planung und Durchführung von Verhandlungen stets die jeweilige Geschäftsbeziehung und wägen Taktik gegen Gewinn, Werte und Risiken ab.

„Ich weiß NOCH IMMER, was du letzten Sommer getan hast...“ ist nichts, was man als Verkäufer oder Einkäufer hören möchte. Unberechenbar zu sein, verursacht Unbehagen. Es braucht Vorbereitung. Es erfordert Mut und genaue Kenntnis der eigenen Verhandlungsposition. Doch manchmal ist unberechenbares Handeln durchaus angebracht, um die Geschäftsbeziehung auf Kurs zu halten. Also einfach mal wieder in die Verhandlungs-Trickkiste greifen und ein wenig unberechenbar sein!

Jens Hentschel ist Gründer von The Fivis Partnership.

Inhalt